In einem Kommentar zum Blog-Beitrag Auflagen, die eigentlich Drucke sind wurde auf die Problematik hingewiesen, dass mehrere Bibliotheken desselben Verbunds in dieser Frage unterschiedliche Entscheidungen treffen könnten. Dies scheint mir eine günstige Gelegenheit, um ein bisschen über die grundsätzlichen Unterschiede zwischen "RAK-Denk" und "RDA-Denk" zu philosophieren.
Das Ideal der RAK war die Einheitlichkeit: Wenn man zehn Katalogisierern dasselbe Medium gibt, dann soll - so der Wunschtraum - zehnmal exakt dieselbe Titelaufnahme herauskommen. Entsprechend mussten die Vorgaben des Regelwerks möglichst alle denkbaren Fälle abdecken und zugleich sehr detailliert sein.
Als Entscheidungskriterien bevorzugt RAK formale Aspekte. Gute Beispiele dafür sind die Entscheidung über Haupt- oder Nebeneintragung unter einem Urheber (Haupteintragung, wenn der Urheber im Sachtitel genannt oder dazu zu ergänzen ist) oder die Entscheidung, ob ein gemeinschaftlich verfasstes Werk oder ein begrenztes Sammelwerk vorliegt (bei getrennten Textanteilen: begrenztes Sammelwerk). Dahinter steht wohl die (durchaus plausible) Annahme, dass Entscheidungen anhand von formalen Kriterien schneller und eindeutiger zu treffen sind als anhand von inhaltlichen Kriterien.
Etwaige verbleibende Unsicherheiten versucht RAK, mit Hilfe von Zweifelsfallregelungen in den Griff zu bekommen (die ich übrigens sehr schätze). Auch die Beispiele im Regelwerk leisten einen großen Beitrag zur Vereinheitlichung der Ergebnisse: Gibt es ein einschlägiges Beispiel, so ist es für deutsche Katalogisierer selbstverständlich, dass man sich bis aufs i-Tüpfelchen daran orientiert.
Die geschilderten RAK-Prinzipien passen gut in unsere von Rationalisierung und Kooperation geprägte Bibliothekswelt: Erschließung soll möglichst schnell gehen, und es soll möglichst wenige Diskussionen über die von vielen Bibliotheken gemeinsam genutzten Datensätze geben. Dabei wurde nach meinem Eindruck in Kauf genommen, dass vielleicht nicht immer das in sachlicher Hinsicht 'beste' Ergebnis herauskommt. So habe ich erst vor kurzem in einem Blog-Beitrag darauf hingewiesen, dass ich das Kritierum der getrennten Textanteile im Ergebnis für eher unbefriedigend halte.
Faszinierenderweise scheinen die KollegInnen in der angloamerikanischen Welt sich seit jeher mehr Zeit für die Katalogisierung genommen zu haben (zumindest für das "original cataloging", also die selbst erstellten Katalogisate). Dies scheint noch immer der Fall zu sein, obwohl der Rationalisierungsdruck mittlerweile auch jenseits des großen Teichs stärker geworden ist. Verfolgt man amerikanische Mailinglisten, so hat man den Eindruck, dass die KollegInnen sich manchmal tagelang mit schwierigen Fällen beschäftigen (und sich dann auch noch die Zeit nehmen, diese in der überregionalen Community ausführlich zu diskutieren) - bei uns scheint mir so etwas nur schwer vorstellbar.
Eine wichtige Rolle in RDA-Denk spielt das "cataloger's judgment", also das Beurteilungs- und Entscheidungsvermögen des jeweiligen Bearbeiters. Fehlen zu einer bestimmten Frage exakte Vorgaben, so wird dies nicht als Defizit des Regelwerks angesehen; vielmehr gilt der Spielraum, der sich den Katalogisierern dadurch eröffnet, als etwas Positives. Entsprechend gibt es in RDA immer wieder Hinweise auf das eigene Ermessen. Ich habe gerade spaßeshalber mit der Suchfunktion geprüft, wie oft die Phrase "if considered important" im englischen RDA-Text vorkommt - nicht weniger als 219mal. Dazu passt es auch, dass die Abwägung oft nach eher inhaltlichen Kriterien erfolgt (z.B. bei der Frage, wann eine Körperschaft als geistiger Schöpfer gilt).
Dies führt natürlich zwangsläufig dazu, dass mehrere Katalogisierer zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Die vielen Alternativ- und Optionsregelungen, die in RDA angelegt sind, verstärken die mögliche Bandbreite noch. Auch die Rolle der Beispiele ist in RDA anders als in RAK: Sie sind nicht präskriptiv gedacht, sondern sollen nur illustrativ sein. D.h. sie zeigen eine Möglichkeit, wie man eine bestimmte Sache regelwerksgerecht machen kann – dies heißt aber nicht, dass es nicht noch weitere Möglichkeiten dafür gibt, die ebenfalls regelwerksgerecht sind. Man muss es also nicht genauso nachmachen, wie man es in einem Beispiel sieht. Entscheidend ist nur, dass die eigene Lösung dem Text der Regelwerksstelle nicht widerspricht.
Die Nachnutzung von Erschließungsdaten funktioniert in der angloamerikanischen Welt etwas anders als bei uns: Es arbeiten nicht alle im selben Datenpool, sondern man lädt sich einen passenden Master-Datensatz z.B. aus OCLC in den lokalen Katalog herunter. Diesen kann man dann natürlich auch lokal verändern, wenn man möchte. Diese Strukturen haben sicher auch dazu beigetragen, dass es nicht als Problem angesehen wird, wenn mehrere Katalogisierer zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Mit dem neuen Trend zur Cloud-Technologie könnte sich dies allerdings ändern.
Was ist nun besser: RAK-Denk oder RDA-Denk? Ich glaube, das lässt sich so nicht sagen - es sind einfach zwei unterschiedliche Ansätze. Mit dem bevorstehenden Regelwerksumstieg müssen wir uns allerdings zwangsläufig mehr und mehr von RAK-Denk lösen und an RDA-Denk gewöhnen. Das wird nicht immer leicht sein. Vielleicht ist es sogar eine größere Herausforderung als das Erlernen der neuen Regeln selbst.
Die Anwendungsrichtlinien D-A-CH spielen dabei die Rolle eines Vermittlers: Die für uns vielleicht manchmal allzu große Freiheit, die der Regelwerkstext bietet, wird durch die D-A-CH relativiert. So ist für jede Alternativ- oder Optionsregelung festgelegt, ob sie (1) angewendet werden muss, ob sie (2) nicht angewendet werden darf oder ob man (3) selbst entscheiden kann, ob man sie anwendet oder nicht. Vielfach geben die Anwendungsrichtlinien auch viel genauere Anweisungen als der bloße Regelwerkstext, z.B. bei der jüngst diskutierten Frage der Auflagen, die eigentlich Drucke sind. Dennoch erreichen die D-A-CH ganz bewusst nicht denselben Grad an detaillierten Vorgaben wie einst die RAK. Dem Geist von RDA entsprechend wird stattdessen manches in das Ermessen des Katalogisierers gestellt. Ein gutes Beispiel dafür ist das umfangreiche D-A-CH zur Abgrenzung von Haupttitel und Titelzusätzen (RDA 2.3.4.3 D-A-CH).
Kommen wir zurück zum Aufhänger dieses Blog-Beitrags: Wie schlimm ist es denn nun, wenn im Verbundkontext mehrere Katalogisierer zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Ich bin hier sehr gespannt auf Ihre Meinungen!
Ich persönlich denke, dass wir solche Probleme ja auch bisher schon hatten. Denn trotz aller genauen Vorgaben in den RAK selbst und den sie ergänzenden (zum Teil noch weitaus detaillierteren) Verbundrichtlinien sind Katalogisierer sich auch bisher schon oft genug nicht einig gewesen. Und manche KollegInnen haben sich sowieso nicht die Mühe gemacht, in irgendwelche Regeln zu schauen, sondern haben es halt irgendwie gemacht... Entsprechend sind in den Verbünden bereits Spielregeln und Mechanismen entwickelt worden, um auf effiziente Weise mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen. Vielleicht muss man diese künftig noch etwas ausbauen und verfeinern. Aber grundsätzlich hoffe ich schon, dass sich diese auch in einer RDA-Umgebung bewähren werden.
Heidrun Wiesenmüller
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Peter Bredthauer (Donnerstag, 26 März 2015 20:47)
Wenn in der Verbundkatalogisierung verschiedene Ergebnisse für dasselbe Werk (bzw. diesselbe Ausgabe eines Ebensolchen) herauskommen, hat dies nach meiner Meinung im "schlimmsten" Fall zur Folge, dass ein Buch nicht gefunden bzw. als das Gewünschte identifiziert und nutzbar gemacht wird. Bestenfalls kommen befruchtende Diskussionen im Austausch zwischen den Beteiligten heraus, welche oft genug zur wiederholten, kritischen Auseinandersetzung mit den Regeln und zur Überprüfung des eigenen Wissensstandes anregen können. Ich halte das für gut und wichtig, um der Gefahr von Eintönigkeit und eingefahrenen Routinen zu entgehen. Das wird hoffentlich im Kontext von RDA so bleiben - somit können wir uns glücklich schätzen in einem spannenden und abwechslungsreichen Beruf ,-)