Frage und Antwort: Interviews, aufgezeichnete Erinnerungen, Ghostwriter

Gestern erreichte mich folgende Frage: "Wie sieht es bei "Interviews" oder "Gesprächen" mit den geistigen Schöpfern aus? Konkret haben wir folgenden Fall vorliegen. Der Titel lautet:

Dem Leben ins Gesicht gelacht : Gespräche mit Olaf Köhne und Peter Käfferlein / Liselotte Pulver

Liselotte Pulver haben wir als ersten geistigen Schöpfer angesehen mit der Beziehungskennzeichnung "Interviewter". Ist das richtig so? Und sind die beiden Interviewer weitere geistige Schöpfer?"

Ausschnitt aus der Buch-Vorschau bei Amazon
Ausschnitt aus der Buch-Vorschau bei Amazon

Ein Blick ins Buch (über Amazon oder Google Books kann man sich eine Vorschau anzeigen lassen) zeigt, dass es sich hier tatsächlich um ein Interview handelt: Lilo Pulver antwortet (sehr ausführlich) auf Fragen der beiden Journalisten.

Nach RDA liegt damit ein gemeinschaftlich geschaffenes Werk vor, bei dem die beteiligten Personen unterschiedliche Rollen ausüben (RDA 19.2.1.1). Es gibt auch ein passendes Beispiel im Kapitel 19.2.1.3 (Erfassen von geistigen Schöpfern), und zwar im Beispielkasten mit der Überschrift "Mehrere Personen, Familien oder Körperschaften, die für die Schaffung des Werks verantwortlich sind, die verschiedene Funktionen ausüben":

My wartime experiences in Singapore / Mamoru Shinozaki ; interviewed by Lim Yoon Lin

Als geistige Schöpfer sind hier sowohl die interviewte Person als auch der Interviewer angegeben. Die Hauptverantwortlichkeit liegt in solchen Fällen - unabhängig von der Präsentation der Ressource - sicher bei der interviewten Person (in unserem Beispiel Liselotte Pulver), sodass diese als erster geistiger Schöpfer zu gelten hat. Aber auch die Interviewer sind nicht nur Mitwirkende, sondern Mit-Schöpfer des Werks. Dies ist durchaus plausibel, denn mit ihren Fragen lenken sie ja den Gang des Interviews. Im Anhang I.2.1 gibt es geeignete Beziehungskennzeichnungen:

Interviewter Eine Person, eine Familie oder eine Körperschaft, die für die Schaffung eines Werks verantwortlich ist, indem sie einem Interviewer antwortet, normalerweise einem Reporter, einem Meinungsforscher oder einem anderen, der Informationen zusammenträgt.

Interviewer Eine Person, eine Familie oder eine Körperschaft, die für die Schaffung eines Werks verantwortlich ist, indem sie als Interviewer, Reporter, Meinungsforscher oder anderer Informationssammler tätig ist.

Diese Beziehungskennzeichnungen scheinen mir hier besser zu passen als ein einfaches "Verfasser" (wie es derzeit bei DNB zu sehen ist). Vor kurzem wurde ich zu einem ähnlichen Beispiel befragt:

Erinnerungen / Sonja Mataré ; aufgezeichnet von Irmgard Faber-Asselborn

Im Klappentext heißt es: "Irmgard Faber-Asselbor hat die Erinnerungen von Sonja M. einfühlsam niedergeschrieben und zu diesem fesselnden Zeitbild werden lassen." Beim Text handelt es sich um eine Mischung aus wörtlichen Zitaten von Sonja Mataré und einer erzählenden Lebensdarstellung. Beim Verlag kann man eine Leseprobe abrufen; hier eine Seite daraus:

In RDA 19.2.1.3 finde ich kein Beispiel, was diesem ganz genau entspricht. Denn das Beispiel ""Aaron, r.f." / by Henry Aaron as told to Furman Bisher" ist vermutlich auch eher dem Interview-Typ zuzuordnen. Aber nichtsdestoweniger liegt fraglos auch in diesem Fall ein gemeinschaftlich verfasstes Werk vor. Die Hauptverantwortlichkeit liegt wiederum bei der Person, um deren Leben es geht. Aber auch Irmgard Faber-Asselborn hat den Rang einer geistigen Schöpferin (nicht nur einer Mitwirkenden), denn sie hat das, was ihr erzählt wurde, nicht nur "aufgezeichnet", sondern in eine bestimmte literarische Form gebracht. Mir erscheint es daher das Sinnvollste, bei diesem Beispiel für beide Personen die Beziehungskennzeichnung "VerfasserIn" zu verwenden.

Und was ist eigentlich mit Ghostwritern, wie sie z.B. häufig bei Memoiren von Prominenten eingesetzt werden? Wenn sie nicht in der Vorlage genannt sind, kann man sie natürlich ohnehin nicht berücksichtigen. Aber wenn der Ghostwriter genannt ist, dann liegt auch in diesem Fall ein gemeinschaftlich geschaffenes Werk vor. Im Beispielkasten mit der Überschrift "Mehrere Personen, Familien oder Körperschaften, die für die Schaffung des Werks verantwortlich sind, die dieselbe Funktion ausüben" gibt es ein einschlägiges Beispiel:

A skating life / Dorothy Hamill with Deborah Amelon

Bei dieser Autobiografie der Eiskunstläuferin Dorothy Hamill dürfte Deborah Amelon das ihr Berichtete als "Ghostwriter" in eine lesbare Form gebracht haben. Die Eiskunstläuferin ist die erste geistige Schöpferin, die Ko-Autorin die zweite. Ich würde für beide als Beziehungskennzeichnung wieder ein schlichtes "VerfasserIn" verwenden.

Heidrun Wiesenmüller

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Kommentare: 8
  • #1

    Catharina Hagner (Donnerstag, 03 November 2016 14:34)

    Sehr geehrte Frau Wiesenmüller,

    vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Da ich persönlich viel mit der Erschließung von Aufsätzen (darunter auch eine Vielzahl von Interviews) zu tun habe, stand ich bereits mit der Einführung von RDA vor der obigen Fragen. Ich hätte dazu nur zwei Anmerkungen/persönliche Ansichten:

    1. Ich persönlich würde den Interviewten nicht per se als ersten geistigen Schöpfer betrachten. Bei der Mehrheit der von mir bearbeiteten Interviews überwog bisher der schöpferische Anteil der Interviewer oftmals den des Interviewten deutlich, sei es durch umfassende Fragen (auf die es dann nur diplomatisch kurze Antworten gibt), Nachfragen oder vertiefende Fakten, Lenkung des Gesprächverlaufs, Schriftlegung der Antworten, Auswahl von Fragen und Antworten etc. Ihr Beispiel (Liselotte Pulver) ist eher die Ausnahme. Ich plädiere dafür, die Wertung "erster oder weiterer" geistiger Schöpfer vom Inhalt und nicht vom formalen Aspekt (Interviewter/Interviewer) abhängig zu machen.

    2. Beim Beispiel "Erinnerungen" von Sonja Mataré schreiben Sie: "Die Hauptverantwortlichkeit liegt wiederum bei der Person, um deren Leben es geht."
    Diesen Satz halte ich für missverständlich, da hier Sach- und Formalerschließung vermischt werden. Nur weil etwas über eine Person ist, muss sie nicht automatisch erster geistiger Schöpfer sein. Es ist zu betrachten, ob sie einen schöpferischen Anteil am Werk hat oder nicht.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Catharina Hagner

  • #2

    Heidrun Wiesenmüller (Donnerstag, 03 November 2016 14:43)

    Liebe Frau Hagner,
    danke für den Kommentar!
    Es gibt sicher Fälle, in denen man die Hauptverantwortlichkeit besser beim Interviewer verortet, da haben Sie recht. Wahrscheinlich kommt es auch auf das Thema an. Vielleicht haben Sie ein interessantes Beispiel für einen solchen Fall?
    Bei den Beispielen hier war es ja immer ein biografisches Interview. Da denke ich schon, dass die Aussagen der Person selbst im Zentrum stehen - egal, ob sie in direkter Rede präsentiert werden oder sozusagen literarisch "überformt". Das ist sicher ein anderer Fall als der einer reinen Biografie, bei der das Leben einer Person beschrieben wird, ohne dass diese selbst an dem Werk beteiligt war. Um diesen Typ ging es mir hier in der Tat nicht.
    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller

  • #3

    Ilona Maier (Donnerstag, 03 November 2016 15:41)

    Den ersten Punkt von Frau Hagner finde ich sehr treffend.
    Sie schreiben in Ihrer Antwort von einem "biografischen Interview". Handelt es sich nicht vielmehr um eine Biografie/Lebenserinnerungen, die in Form eines Interviews verfasst wurde? Die Aussagen der interviewten Person stehen sicher im Zentrum, aber den ganzen Text als solches haben die Interviewer zusammengestellt, nehme ich an. Damit würden sie meiner Ansicht nacht als 1. geistiger Schöpfer gelten.

  • #4

    Heidrun Wiesenmüller (Donnerstag, 03 November 2016 16:06)

    Spannend, dass die Frage nach dem ersten geistigen Schöpfer hier nun so kontrovers diskutiert wird - hier sehen wir sozusagen "cataloger's judgement in action" :-)

    Ich würde aber trotzdem bei meiner Einschätzung bleiben, dass bei den beiden Beispielen Pulver und Mataré diese Damen sinnvollerweise als erste geistige Schöpfer erfasst werden sollte. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch an die "convenience of the user" erinnern, denn in vielen Katalogen wird in der Kurzanzeige nur die erste beteiligte Person angezeigt. Ich glaube außerdem, dass auch die Nutzer diese Bücher in erster Linie als Werke von Frau Pulver bzw. Frau Mataré auffassen werden. Die Namen der anderen geistigen Schöpfer wird kaum jemand präsent haben bzw. die werden die LeserInnen auch nicht wirklich interessieren (und es wird vermutlich auch niemand danach suchen). Auch deshalb scheint es mir angebracht, wenn im normierten Sucheinstieg für das Werk - also sozusagen im "Namen" des Werks - Lilo Pulver bzw. Sonja Mataré auftauchen, und nicht Olaf Köhne bzw. Irmgard Faber-Asselbor. Dem entspricht auch die Präsentation der Ressourcen - schauen Sie sich mal die Titelblätter an.

    Auch in den zitierten RDA-Beispielen ist übrigens die interviewte Person bzw. die, deren Autobiografie von der Ghostwriterin geschrieben wurde, jeweils als erste geistige Schöpferin aufgeführt. Gerade das letzte Beispiel zeigt vielleicht, dass man hier mit dem Abwägen des tatsächlichen Anteils am Werk nur bedingt weiter kommt. Man könnte ja argumentieren, dass die Ghostwriterin die eigentliche Arbeit gemacht hat und deshalb zwingend die erste geistige Schöpferin sein muss. Aber das ist nicht der Fall. Ich denke, das hat zum einen etwas damit zu tun, dass das Gedankengut - und damit ein ganz zentraler Teil des Werks - eben doch von der (auto-)biografierten Person stammt. Und zum anderen wahrscheinlich damit, dass der Ghostwriter in diesem Fall zwar nicht geheim ist, aber doch ganz deutlich hinter der Person, für die er agiert hat, zurücktritt. Der Ghostwriter überlässt sozusagen die Verantwortlichkeit für das Werk der anderen Person.

    Aber sicher gibt es noch weitere Beiträge zu dieser spannenden Diskussion!

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller


  • #5

    Catharina Hagner (Freitag, 04 November 2016)

    Liebe Frau Wiesenmüller,

    bei Ihren beiden Beispielen stimme ich Ihnen zu, da hätte ich mich nach Einblick in die Ressource (Leseproben im Internet sei Dank) auch für Liselotte Pulver/Sonja Mataré als ersten geistigen Schöpfer entschieden.
    Mir ging es nur darum, dass ich eine formale Einteilung "Interviewter = 1. geistiger Schöpfer" und "Interviewer = weiterer geistiger Schöpfer" nicht sinnvoll finde, sondern diese Entscheidung eben abhängig von der Ressource und den Umständen individuell fällen würde.

    Ihre Erläuterungen zu "convenience of the user" fand ich noch einmal sehr erhellend, da er im Alltag zwischen all den Regeln, Neuerungen und Sonderfällen sicher immer mal wieder in Vergessenheit gerät. Wenn man das ganze aber (sehr überzogen) auf die Spitze treiben würde, könnte man ja auch sagen, wir brauchen kaum wirkliche formale Regeln, wir erfassen so, wie es der Nutzer suchen würde (ganz gleich, wie es in der Vorlage aussieht).

    Und sobald ich ein schönes Beispiel für ein besonders inhaltsloses Interview wieder auf meinem Tisch vorfinde, werde ich es Ihnen sehr gerne zukommen lassen.

    Herzliche Grüße,
    Catharina Hagner

  • #6

    Ilse Herwirsch (Donnerstag, 23 März 2017 17:16)

    Sehr geehrte Frau Wiesenmüller!

    Ich habe gerade ein Buch vor mir, das Interviews mit mehreren Personen beinhaltet, und habe mich an Ihren Blog-Beitrag erinnert und deshalb hier nachgelesen.

    Es handelt sich um die ISBN 978-3-222-13554-5, der Titel lautet "Was glauben Sie?", der Titelzusatz "Nach den Gründen fragen".
    Auf der Titelseite ist nur der Interviewer wie ein Verfasser genannt (Johannes Kaup) und es war für mich hier erst gar nicht klar, dass es sich um Interviews handelt. In diesem Fall kann man wohl nur den Interviewer als 1. geistigen Schöpfer nehmen (oder überhaupt als einzigen?).
    Die Interviewten sind im Inhaltsverzeichnis ersichtlich (aber auch nicht sofort als solche erkennbar, stehen unter dem Titel des Kapitels) und natürlich bei den einzelnen Interviews. Und auf dem Schutzumschlag (vordere Klappe) steht: "Johannes Kaup im Gespräch mit ..." und dann sind alle (22) Interviewten aufgelistet.
    In den Interviews überwiegt meist der Anteil des Interviewten.

    Meinen Sie, soll man in einer Anmerkung (zur Verantwortlichkeitsangabe) die (bzw. zumindest den 1.) Interviewten anführen?
    Und kann man hier die Interviewten überhaupt als geistige Schöpfer für das Gesamtwerk ansehen oder doch nur für das einzelne Interview? (Müsste man ihnen also - in Aleph - in 104 etc. den Indikator b geben und trotzdem den Code ive?)
    Ich habe es jetzt einmal (im OBV) so gemacht.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ilse Herwirsch

  • #7

    Heidrun Wiesenmüller (Freitag, 24 März 2017 10:13)

    Liebe Frau Herwirsch,

    das ist wirklich ein kniffliger Fall.

    Es handelt sich eine Zusammenstellung, wobei bei den zusammengestellten Werke der erste geistige Schöpfer immer derselbe ist (Herr Kaup), er aber immer gemeinsam mit einem anderen geistigen Schöpfer handelt. Die Interviewten sind damit definitiv nur geistige Schöpfer eines Teilwerks (ihres Interviews). Und damit kann eigentlich auch Herr Kaup nicht geistiger Schöpfer des Ganzen sein. Man müsste das Werk also unter den Titel stellen und könnte die Personen nur als geistige Schöpfer der Teilwerke berücksichtigen. In Pica wäre das dann 3010, in Aleph vermutlich genau so, wie Sie sagen.

    Es können trotzdem die normalen Beziehungskennzeichnungen "Interviewer" und "Interviewter" verwendet werden; dies haben wir ja im D-A-CH zu 18.1.5.3 festgelegt (dort unter Punkt 5).

    Wenn man die Interviewten berücksichtigen möchte, so müsste man m.E. nicht unbedingt noch eine Anmerkung schreiben. Denn die Formulierung "Johannes Kaup im Gespräch mit ..." betrachte ich als eine ausreichende Verankerung in der bibliografischen Beschreibung.

    Etwas problematisch an der beschriebenen Lösung ist allerdings, dass sie nicht so richtig zur Präsentation der Ressource selbst passt, wo ja Kaup wie ein geistiger Schöpfer dargestellt wird. Und natürlich hat er auch das ganze Konzept für den Band gemacht und ist durch die Auswahl der Interviewpartner und die Dramaturgie seiner Fragen in so großem Maße für das Ganze verantwortlich, dass man ihn gerne als geistigen Schöpfer des Ganzen haben möchte. M.E. würde es durchaus dem Geist von RDA entsprechen, wenn man sich auf der Basis von Cataloger's judgment doch dafür entscheidet, in diesem Fall Kaup als geistigen Schöpfer des Ganzen zu betrachten. Man kann sich dabei auf das Grundprinzip in RDA 0.4.3.4 ("Die Daten, die eine Ressource beschreiben, sollten widerspiegeln, wie sich die Ressource selbst darstellt.") und vielleicht auch 0.4.2.1 (Benutzerbedürfnisse) berufen. Die Interviewten wären dann natürlich trotzdem nur geistige Mit-Schöpfer des jeweiligen Interviews, nicht des Ganzen.

    Fazit: Ich fände hier beide Lösungen akzeptabel - entweder strikt formal als Zusammenstellung (in der alten Terminologie: Sachtitelwerk) oder wegen der besonderen Bedeutung von Kaup mit ihm als geistigen Schöpfer des Ganzen.

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller

  • #8

    Ilse Herwirsch (Freitag, 24 März 2017 12:17)

    Liebe Frau Wiesenmüller,

    besten Dank für Ihre Einschätzung.
    Ich habe den Datensatz also so belassen, dass Kaup der geistige Schöpfer des Ganzen ist mit der Beziehungskennzeichnung "Interviewer" und der 1. Interviewte wie ein Mitwirkender angegeben wird - mit der Beziehungskennzeichnung "Interviewter".
    Da "Johannes Kaup im Gespräch mit ..." nur auf dem Schutzumschlag steht, kann man das natürlich nur in eine Anmerkung schreiben.

    (Ihren Hinweis auf D-A-CH zu 18.1.5.3 habe ich eine Weile gesucht, bis ich draufgekommen bin, dass es sich um 18.5.1.3 handelt - aber im Kap. 18 gibt es ja bisher nur 2 AWRs.)

    Mit besten Grüßen
    Ilse Herwirsch