Neues, konsolidiertes FRBR-Modell: FRBR-LRM (Teil 4)

Das ist nun schon der vierte Blog-Beitrag zum Draft von FRBR-LRM (Teil 1: Entitäten, Teil 2: Benutzeranforderungen und Merkmale, Teil 3: Beziehungen). Diesmal soll es um das knifflige Thema der "Aggregate" gehen. In FRBR-LRM gibt es einen eigenen Abschnitt zu "Modelling of Aggregates" (Draft, S. 64-66). Dabei werden drei Arten von Aggregaten unterschieden. Ich konzentriere mich im Folgenden auf den ersten Typ, der als "aggregate collections of expressions" bezeichnet wird, also als "aggregierte Sammlung von Expressionen". Hier die Erläuterung aus FRBR-LRM (S. 64):

Erläuterung zur "aggregierten Sammlung von Expressionen"
Erläuterung zur "aggregierten Sammlung von Expressionen"

Beispiele für diesen Typ sind also u.a. Anthologien, Aufsatzsammlungen, Zeitschriften, Werkausgaben, Sammelausgaben mit mehreren Werken (z.B. mehrere Romane), CDs mit mehreren Stücken etc. In der RDA-Terminologie entspricht dies den "Zusammenstellungen" von mehreren Werken. Die beiden anderen Typen von Aggregaten sind "aggregates resulting from augmentations" (z.B. ein Roman, der durch Illustrationen oder eine Einleitung ergänzt wird) sowie "aggregates of parallel expressions" (Ausgaben, die mehrere Expressionen desselben Werks enthalten, z.B. eine zweisprachige Text-Ausgabe).

Die Macher von FRBR-LRM haben sich offenbar keine eigenständigen Gedanken über diese Aggregate gemacht, sondern einfach das Ergebnis aus dem Final report der Working Group on Aggregates von 2011 übernommen. Die auf S. 66 in FRBR-LRM gezeigte Abbildung stammt aus diesem Dokument. Hier ist sie nochmal, direkt aus der Originalquelle entnommen (Final report, S. 5):

Grundschema für Aggregate aus dem "Final report" der Working Group on Aggregates
Grundschema für Aggregate aus dem "Final report" der Working Group on Aggregates

Um das in diesem Diagramm dargestellte Konzept zu verstehen, nehmen wir als Beispiel eine Festschrift mit zwölf Aufsätzen. Die Aggregierung geschieht auf der Ebene der Manifestation. Wir haben also eine "aggregierte Manifestation" (aggregate manifestation). In dieser aggregierten Manifestation sind nun einerseits die zwölf Einzelwerke, also die Aufsätze, verkörpert. Im Diagramm sieht man dies auf der linken Seite. Dazu kommt nun aber noch ein dreizehntes Werk, das ebenfalls in der aggregierten Manifestations verkörpert ist. Dieses sehen Sie im Diagramm rechts: Es ist das sogenannte "Aggregierungswerk" (aggregating work). Das Aggregierungswerk repräsentiert die intellektuell-kreative Leistung des Aggregierenden, in unserem Beispiel des Herausgebers. Dieser ist folglich der geistige Schöpfer des Aggregierungswerks. Die Erläuterung aus dem Final report (S. 5) wurde wortwörtlich in den Draft von FRBR-LRM übernommen (S. 65):

"The process of aggregating the expressions is itself an intellectual or artistic effort and therefore meets the criteria for a work. In the process of creating the aggregate manifestation, the aggregator creates an aggregating work. This type of work has also been referred to as the glue, binding, or the mortar that transforms a set of individual expressions into an aggregate. This effort may be relatively minor - two existing novels published together -or it may represent a major effort resulting in an aggregate that is significantly more than a sum of its parts (for example an anthology). An aggregating work is not a discrete section or even necessarily an identifiable part of the resulting manifestation and does not contain the aggregated works themselves."

Beachten Sie den letzten Halbsatz: Das Aggregierungswerk ist nicht etwa die Summe der zwölf Aufsatzwerke! Es ist vielmehr eine gänzlich abstrakte Entität. Sie repräsentiert das, was die Einzelwerke verbindet (den "Leim" oder "Mörtel") und ihnen einen gemeinsamen Rahmen gibt.

Es ist sicher richtig, dass der Herausgeber einer Zusammenstellung eine schöpferische Leistung erbringt. Ob man diese nun als ein eigenes Werk begreifen muss, scheint mir jedoch zweifelhaft. Nach FRBR-LRM ist ein Werk "the intellectual or artistic content of a distinct creation". Kann man bei einem Aggregierungswerk überhaupt von "a distinct creation" sprechen? Man tut sich außerdem sehr schwer damit, die normalen Merkmale eines Werks, wie man sie aus RDA kennt, auf ein Aggregierungswerk anzuwenden. Einen Titel für ein solches Werk wird man jedenfalls weder in Nachschlagewerken noch in den Ressourcen, die das Werk verkörpern, finden (denn der Titel der Festschrift ist ja nicht identisch mit dem Titel des Aggregierungswerks). Gemäß RDA 6.2.2.6.2 müsste man dann einen Titel fingieren, z.B. "Aggregierungswerk für die Festschrift XY". Die Form des Werks wäre dann wohl etwas wie "Aggregierungswerk".

Das alles wirkt doch sehr gekünstelt (um nicht zu sagen: an den Haaren herbeigezogen) und ist m.E. keineswegs zwingend nötig. Denn man kann die Leistung des Aggregierenden auch einfach dadurch würdigen, dass man eine Beziehung zu ihm anlegt und seine Funktion mit einer entsprechenden Beziehungskennzeichnung markiert. Leider wurde das ursprünglich in RDA vorhandene "Herausgeber einer Zusammenstellung" wieder gestrichen, sodass wir derzeit nur das allgemeinere "Herausgeber" zur Verfügung haben. Aber trotzdem ist das "Aggregierungswerk" damit nach meinem Empfinden ausreichend ausgedrückt.

Etwas kurios ist das "Aggregierungswerk" also schon, aber notfalls könnte man damit sicher leben. Das wirklich Dramatische am Modell der Aggregates-Arbeitsgruppe ist etwas anderes: Es gibt in diesem Konzept zwar eine aggregierte Manifestation, aber keine damit korrespondierende aggregierte Expression und auch kein aggregiertes Werk. Man sieht es deutlich im Diagramm: Über der "aggregate manifestation" gibt es keine Säule mit einer zugehörigen Expression und einem zugehörigen Werk, sondern nur leeren Raum.

Übertragen wir das nun auf unser Festschrift-Beispiel: Wir haben dort zwar 13 Einzelwerke (12 Aufsätze + 1 Aggregierungswerk), aber kein Werk, das die Festschrift als Ganzes repräsentiert. Denn ein aggregiertes Werk gibt es grundsätzlich nicht. Auch das Aggregierungswerk steht nicht etwa für das Ganze, sondern nur für einen Teil davon (das, was die anderen Werke zusammenhält). Die Festschrift selbst ist also gemäß dem Modell der Arbeitsgruppe kein Werk. Dasselbe gilt für eine Anthologie, eine Zeitschrift, eine monografische Reihe, das Album einer Musikgruppe... alle diese Dinge haben keinen Werkcharakter.

Entsprechend gibt es auch keine Teil-Ganzes-Beziehungen zwischen den Einzelwerken und einem größeren Werk - weil ein solches größeres Werk gar nicht existiert. Zwar kommen auch im Konzept der Arbeitsgruppe Teil-Ganzes-Beziehungen auf der Werk-Ebene vor. Doch sie bleiben konsequenterweise auf die Teile eines Einzelwerks beschränkt. Vgl. die folgende Passage, die gemäß dem Vorschlag der Arbeitsgruppe in einer überarbeiteten Fassung von FRBR stehen sollte (Final report, S. 7):

"The structure of the model also permits Group 1 entities to have components or parts. A work may consist of intellectually or artistically discrete components, such as a chapter of a report, a segment of a map, a table from a report, etc. [Hervorhebung von mir] For the purposes of the model, entities at the component level operate in the same way as entities at the integral unit level; they are defined in the same terms, they share the same characteristics, and they are related to one another in the same way as entities at the integral unit level."

Die Beispiele sind offenbar sehr bewusst gewählt - es sind alles Einzelwerke. Wenn wir also einen Roman (ein Einzelwerk) mit zwölf Kapiteln haben, so ist nicht nur das Ganze ein Werk, sondern wir können auch jedes Kapitel daraus genauso behandeln wie ein Werk. Zwischen dem Gesamtwerk und den Kapitel-Werken bestehen Teil-Ganzes-Beziehungen. Wenn wir aber eine Festschrift mit zwölf Aufsätzen haben, so können wir zwar jeden Aufsatz als Werk behandeln, aber nicht das Gesamte (denn aggregierte Werke existieren ja nicht). Entsprechend gibt es auch keine Teil-Ganzes-Beziehungen zwischen dem Ganzen und den Aufsatz-Werken.

Dies steht nicht nur im Widerspruch zu jeglicher Intuition (natürlich ist eine Festschrift als Ganzes ein Werk!), sondern hätte nach meiner Einschätzung auch erhebliche Auswirkungen auf die Katalogisierungspraxis. Bei einer Zusammenstellung müsste die Werkebene grundsätzlich mit den Einzelwerken bedient werden. Wir könnten also bei unserer Festschrift nicht den Titel der Festschrift als bevorzugten Titel des Werks angeben, sondern müssten die Werktitel von allen enthaltenen Aufsätzen erfassen. Jede Zusammenstellung wäre also so zu behandeln, wie wir es derzeit nur bei Zusammenstellungen ohne übergeordneten Titel tun.

Man fragt sich auch, wie man in einem solchen Modell mehrere Manifestationen oder Expressionen derselben Zusammenstellung zusammenführen könnte. Dafür würde es m.E. nicht genügen, nur die Liste der Einzelwerke miteinander abzugleichen - denn theoretisch könnte es mehrere unterschiedliche Zusammenstellungen derselben Werke geben. Folglich ginge es wohl nur über das Aggregierungswerk. Dieses müsste also sinnvollerweise stets erfasst werden - anders, als die Arbeitsgruppe annimmt (Final report, S. 5: "In many cases, (…) the aggregating work itself is unlikely to be considered sufficiently significant to warrant bibliographic identification or description.").

Ob die Working Group on Aggregates über die praktischen Konsequenzen ihres Modells überhaupt nachgedacht hat? Ein Problembewusstsein lässt sich jedenfalls nicht erkennen, sondern man klopft sich nachgerade auf die Schulter: "The modeling of aggregates as a manifestation embodying multiple expressions is simple and straightforward (…)." (Final report, S. 5, wörtlich übernommen in den Draft von FRBR-LRM, S. 65). Auch die Tests der Arbeitsgruppe haben laut Eigenaussage nur positive Ergebnisse gebracht: "The proposed approach was tested and evaluated with a wide variety of different manifestations that were either aggregates or possibly could be consider (sic!) aggregates. The conclusion was that the proposed approach: (1) preserves the integrity of expressions and works, (2) is relatively easy to understand and apply, and (3) is consistent with the FRBR model." (Final report, S. 7).

"Relatively easy to understand and apply?" Das könnte ich so nicht unterschreiben. Interessanterweise standen auch nicht alle Mitglieder der Working Group on Aggregates selbst hinter dem bislang vorgestellten Modell, das ich im Folgenden als "Modell A" bezeichne. Das Modell der Abweichler findet sich im Anhang B des Final report (S. 18-20) unter der Überschrift "Alternative approach".

Es wird ausgeführt, dass ein Teil der Gruppe nicht mit den Modell A einverstanden ist: "In particular, some of us do not agree with the proposed FRBR amendment" (S. 18). Die Sichtweise dieser Mitglieder der Arbeitsgruppe bezeichne ich im Folgenden als Modell B. Eine aggregierte Entität wird im Modell B folgendermaßen definiert (Final report, S. 19):

"an aggregate entity is the 'whole' in a 'whole/part' relationship with two or more components (parts). The whole and its parts are connected through a 'contains/contained by' relationship, which could also be expressed as 'has part/is part of.' So when you are considering an aggregate entity, you have 1) a whole (aggregate), 2) its parts (components), and 3) the whole/part relationship between them."

Die aggregierte Entität ist also das Ganze in einer Teil-Ganzes-Beziehung. Was man als Teil ansieht, so argumentiert das Team B weiter, sei subjektiv und abhängig von der Sichtweise und den Policies der katalogisierenden Institution. Falls die katalogisierende Institution die Teile separat beschreiben möchte, so müsse dies in FRBR möglich sein. Falls die katalogisierende Institution nur das Ganze beschreiben möchte, so müsse auch dies möglich sein.

Wie wir gesehen haben, ist aber eine Beschreibung nur des Ganzen im Modell A unmöglich, wenn es sich um eine Zusammenstellung handelt (weil das Ganze nicht als Werk betrachtet wird). Im Modell B steht die Existenz von aggregierten Werken hingegen außer Frage. Ein solches Werk wird als work of works bezeichnet, also als ein Werk, das aus anderen Werken besteht: "some examples could be viewed as works of works (such as archival fonds or serials that contain articles that are works of various authors, etc), and some works of works have their own collective title." (Final report, S. 19). Zusammenstellungen von Werken haben also im Modell B durchaus Werkcharakter. Und während im Modell A Teil-Ganzes-Beziehungen bei Werken nur bei Teilen von Einzelwerken möglich sind (z.B. die Beziehung zwischen einem Roman und seinen Kapiteln), wird eine solche Einschränkung im Modell B klar abgelehnt (S. 20).

Schauen wir uns vor diesem Hintergrund nochmals FRBR-LRM an. Wie bereits erwähnt, wurde im Textteil des Entwurfs das Modell A der Working Group on Aggregates 1:1 übernommen - sogar die Formulierungen hat man wortwörtlich kopiert. Entsprechend dürfte es in FRBR-LRM keine Beispiele von aggregierten Werken geben, richtig? Denn diese sind ja gemäß Modell A überhaupt nicht erlaubt. Verblüffenderweise finden sich aber mehrfach Beispiele für Werke, die aus anderen Werken bestehen, und ebenso Beispiele für Teil-Ganzes-Beziehungen zwischen einer Zusammenstellung und den Einzelwerken. Hier die von mir gefundenen Belegstellen:

  • S. 14: Unter den Beispielen für die Entität "Work" (LRM-E2) findet sich "The Wall Street Journal" . Eine Zeitung ist eine Zusammenstellung von Artikeln, die jeweils eigene Werke sind, also ganz klar ein work of works.
  • S. 69: Aus Abschnitt "5.6 Serials" geht ebenfalls deutlich hervor, dass eine Zeitschrift oder Zeitung als Ganzes als aggregiertes Werk begriffen wird.

  • S. 51: Bei der Teil-Ganzes-Beziehung zwischen zwei Werken (LRM-R20) heißt es: "Examples include movements of concertos, poems within poetry cycles, multipart novels, triptychs." Ich nehme an, dass man ein Concerto als Einzelwerk zu betrachten hat, folglich wäre dieses Beispiel mit dem Modell A kompatibel. Aber ein Gedicht-Zyklus wie Wilhelm Müllers "Winterreise", eine Roman-Serie wie die Harry-Potter-Bände oder ein Triptychon (also drei Gemälde, die zusammen ein Altarbild ausmachen) sind für mich eindeutig Beispiele für works of works. Wie erläutert, sind diese im Modell A nicht vorgesehen; entsprechend dürfte auch die Teil-Ganzes-Beziehung auf Werk-Ebene nicht mit derartigen Beispielen illustriert werden.

Während man also in FRBR-LRM mehrfach auf aggregierte Werke stößt, die es nach den Ausführungen auf S. 64-66 gar nicht geben darf, gibt es außerhalb des besagten Abschnitts - soweit ich sehe - keinen einzigen Hinweis auf das im Modell A postulierte Aggregierungswerk. Dabei hätte man bei der Entität Werk leicht ein Beispiel dafür unterbringen können.

Mein Fazit ist daher, dass FRBR-LRM zwar behauptet, das Modell A umzusetzen, sich faktisch aber an das Modell B hält. Es wird also nur ein Lippenbekenntnis für Modell A abgelegt.

Einerseits fühle ich mich dadurch in meiner Einschätzung bestätigt, dass das Modell A in der Praxis einfach nicht funktioniert. Andererseits ist es für mich beim besten Willen nicht nachvollziehbar, wie es nach fünfjähriger Arbeit am konsolidierten FRBR-Modell zu einem so krassen Widerspruch kommen konnte. Ich muss sagen, dass dies mein Vertrauen in FRBR-LRM nicht gerade gestärkt hat.

Im fünften und voraussichtlich letzten Post zu FRBR-LRM werde ich mich noch einmal näher mit der Entität "Agent" beschäftigen.

Heidrun Wiesenmüller

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Kommentare: 6
  • #1

    Thomas Berger (Sonntag, 13 März 2016 23:12)

    [Disclaimer: ich bin ein notorischer Fan des "Modell A"]

    1. Die Festschrift als Werk aufgefasst hätte - wie alle Werke - einen Urheber, ergäbe das nicht den sehr unerwünschten Effekt der "Ansetzung unter dem Herausgeber", insbesondere in dem Fall, wo Werke eines Urhebers, etwa postum, zusammengestellt werden ("Goethe über die Liebe", Insel 2007. "Über die Liebe" als postumes Werk /von/ Goethe zu etablieren scheint mir auch keine gute Idee...)? Es ist pure Spekulation, aber ich denke, die Working Group on Aggregates hatte den Auftrag, eine Interpretation der FRBR herauszuarbeiten, die hier das bekannte, erwünschte Resultat "Sachtitelwerk" ergibt.

    2. Es fällt mir schwer, mir eine "andere Expression" einer Festschrift vorzustellen: Das wären dieselben Aufsätze, aber mit fundamental geänderter Reihenfolge oder völlig neuem Vorwort? Eher vorstellbar wären überarbeitete oder in andere Sprachen übersetzte Einzelbeiträge, aber die zugehörige Manifestation bestünde dann aus Manifestationen zu ganz anderen Expressions (manchmal ohne dass sich die Leistung des Herausgebers substantiell geändert hätte), was bedeutet das für den Sammelband als Werk oder Expression? Konkretes Beispiel: Der Band "Arno Schmidt", Heft 20 der Reihe "Text + Kritik" ist in vier Auflagen erschienen, http://d-nb.info/720123399, http://d-nb.info/770365868, http://d-nb.info/870158287 (die erste finde ich auf die Schnelle nicht), allein am Kollationsvermerk sieht man gewaltige Veränderungen, m.W. werden dabei aber auch viele Beiträge komplett ausgetauscht: Wie könnte so etwas gemäss den beiden Modelle aussehen?

    3. Zu "serials" geht FRBR-LRM auf die zeitliche Komponente ein (zu einem gegebenen Zeitpunkt sind die zukünftigen Ausgaben noch nicht erschienen) und durch die Erkenntnis des "doppelten Aggregats" (jede Ausgabe im Sinne von Heft für sich ist eins, die Zeitschrift als Ganzes in ihrem Fortschreiten durch die Zeit jedoch auch) kann die Werk-haftigkeit der Zeitschrift etabliert werden:
    >> Rather, the “commonality of content” that defines a serial resides in both the publisher’s
    >> and the editor’s intention to convey the feeling to end-users that all individual issues do
    >> belong to an identifiable whole, and in the collection of editorial concepts (a title, an overall
    >> topic, a recognizable layout, a regular frequency, etc.) that will help to convey that feeling.

  • #2

    Heidrun Wiesenmüller (Montag, 14 März 2016 07:12)

    Lieber Herr Berger,

    vielen Dank! Es ist sehr gut, wenn sich auch ein Anhänger von Modell A äußert. Und ich wäre auch sehr enttäuscht gewesen, wenn Sie nichts dazu geschrieben hätten ;-)

    Zu 1.: Für mich ergibt sich aus Modell B nicht zwingend, dass der Herausgeber der geistige Schöpfer des Gesamtwerks ist. Ein Werk ist eine Schöpfung, das ist natürlich richtig. Aber m.E. ist es kein Dogma, dass ein Werk einem oder mehreren hauptverantwortlichen Schöpfern zugeordnet werden muss. Bei einem Film machen wir das in RDA auch nicht: Niemand streitet ab, dass kreative Kraft aus vielen Köpfen in einen Film einfließt, dennoch gibt es formal keinen geistigen Schöpfer. An der Festschrift als Gesamtwerk sind natürlich einerseits die Aufsatzschreiber, andererseits der Herausgeber schöpferisch beteiligt, trotzdem hätte ich kein Problem damit, auch hier weiterhin zu sagen, dass das Ganze keine(n) hauptverantwortlichen Schöpfer hat. Das wäre dann eben eine Besonderheit solcher aggregierten Werke, ähnlich wie es eine Besonderheit des Werktyps "Film" ist.

    Zu 2.: Ja, bei einer Festschrift wird es allenfalls verschiedene Manifestationen geben (es sei denn, sie wird noch in eine andere Sprache übersetzt). Bei anders gearteten Aufsatzsammlungen, z.B. Handbüchern (von vielen Autoren), gibt es natürlich Neuauflagen, in denen nicht nur einzelne Aufsätze überarbeitet sind, sondern vielleicht auch einige gestrichen wurden und andere dazugekommen sind. Ich denke, dass dies in Modell B kein Problem darstellt. Auch bei der zweiten Auflage eines monografischen Fachbuchs von nur einem geistigen Schöpfer werden Kapitel überarbeitet, kommt etwas dazu, fällt etwas weg. Also muss das auch in einer neuen Expression eines works of works möglich sein (wobei ich nicht abstreite, dass es irgendwo eine Grenze geben wird, bei der man von einem neuen Werk ausgeht). Aber wie ist es in Modell A? Ich wüsste gerne, ob man dann - wenn nicht mehr exakt dasselbe aggregiert wird - trotzdem eine neue Expression des bisherigen Aggregierungswerks hat oder ein neues Aggregierungswerk. Damit hätte sich doch die Arbeitsgruppe auch beschäftigen müssen, oder? Ich habe gerade keine Zeit, es mir nochmal durchzusehen, kann mich aber nicht erinnern, dass sich das Team A dazu geäußert hätte.

    Zu 3.: Ja, ich hatte gemerkt, dass es in LRM primär um die zeitliche Komponente geht. Aber man spricht trotzdem von doppelter Aggregathaftigkeit, d.h. es scheint für die LRM-Macher außer Frage zu stehen, dass etwas, das aus mehreren Aufsätzen besteht, ein work of works ist. Hier sehe ich wieder einen Widerspruch zum Lippenbekenntnis für Modell A.

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller

  • #3

    Thomas Berger (Montag, 14 März 2016 09:28)

    Nun, dies ist ein Blog zu den RDA, insofern kann ich Ihnen keinen Vorwurf machen, das Regelwerks ins Spiel zu bringen. Aber wenn die RDA ein Problem "wegregeln", dann ist u.U. erst die geeignete FRBR-Interpretation zu finden, die das erlaubt. Bei Filmen sehe ich den Konsens, dass es mehrere Hauptverantwortliche in verschiedenen Rollen gibt (Produzent, Regisseur, ..., der "Autorenfilm" ist da ein exotischer Sonderfall, in dem alles zusammenfällt) und man darauf verzichtet, per "Ansetzung" eine dieser Rollen besonders herauszustellen.

    Für einen Aufsatzband hingegen dürfen wir nach FRBR den Autoren /keine/ Verantwortlichkeit für das Ganze unterschieben und jedes Werk hat (mindestens) einen (persönlichen oder körperschaftlichen) Urheber, die Frage an die RDA wäre demgemäß eine doppelte: a) wer ist der Urheber des hypothetischen Sammel-Werks nach Modell B und b) durch welchen Regelwerkskniff wird er dann doch nicht verzeichnet? Der Herausgeber ist gemäß RDA bekanntlich als "Mitwirkender" an die Expression angedockt, der kann es also auch nicht sein?

    Ganz abstrakt sehe ich das so: Der Übergang von Expression zu Manifestation ist in den FRBR sehr "elastisch" als n:m-Relation geregelt, einzelne Expressions (Aufsätze, Buchkapitel, Gedichte, ...) können in beliebiger Kombination in den unterschiedlichsten Manifestationen verkörpert werden, für die Manifestation haben wir dann Teil-Ganzes-Beziehungen, die Summe der Einzelmanifestationen ist die aggregierte Manifestation, unser Sammelband oder Anthologie etc. Modell B postuliert nun zu dieser *Summe* die Existenz einer eindeutigen, "zugehörigen" Expression (und damit eines zugehörigen Werks) und (womöglich - ob die Anhänger von Modell B da eine einheitliche Argumentation haben wäre zu prüfen) eine mysteriöse Übertragung der Teil-Ganzes-Beziehungen von der Manifestation zu dieser Expression. Ich halte das abgesehen von den oben angedeuteten Problemen bei der Umsetzung auch von der Modellierung her für sehr problematisch, denn es werden ja viel stärker als beim "unintuitiven" Modell A artifizielle Entitäten erzwungen.

    Es gibt durchaus Fälle, wo eine Gesamt-Expression tatsächlich existiert (etwa beim Beispiel Buchkapitel), dann aber stets aus eigenen Gründen (die Gesamtheit ist bereits auf Werkebene gegeben und lässt sich dort bereits in "components" einteilen: Diese Relation überträgt sich recht einfach "vorwärts" zu Expressionen und Manifestationen) und nicht weil alles zusammen in einem Band abgedruckt ist. Diese Situation darf man m.E. nicht als Argument für oder gegen eines der Modelle ins Feld führen.

  • #4

    Heidrun Wiesenmüller (Dienstag, 15 März 2016 23:28)

    Eine Sache finde ich an der Diskussion zwischen Herrn Berger und mir besonders interessant: Es gibt einen Punkt, der für mich inakzeptabel ist, aber Herrn Berger nicht wirklich stört - und umgekehrt. Für mich ist es inakzeptabel, dass z.B. eine Festschrift als Ganzes kein Werk sein soll. Hingegen störe ich mich nicht wirklich daran, wenn ein aggregiertes Werk keinen hauptverantwortlichen Schöpfer hat. Bei Herrn Berger ist es, soweit ich sehe, genau andersherum ;-)

    Es stimmt schon, dass RDA an verschiedenen Stellen vereinfacht - beispielsweise wird ja auch das Vorhandensein (oder Nicht-Vorhandensein) von Illustrationen als ein Unterschied auf der Expressionsebene betrachtet, anstatt die Illustrationen als eigenes Werk aufzufassen (sodass man auch hier ein Aggregat vorliegen hätte). Aber eine solche pragmatische Herangehensweise auf der Regelwerksebene ist m.E. nicht nur nicht verboten, sondern kann sogar sehr sinnvoll sein. Nicht jede Komplexität, die man theoretisch erkennen kann, muss in der praktischen Umsetzung auch abgebildet werden.

    Zum Thema Herausgeber: Man müsste hier eigentlich zwei Arten unterscheiden. Beim einen Typ ist es für mich durchaus plausibel, ihn auf der Expressionsebene anzusiedeln (wenn z.B. dasselbe Werk von unterschiedlichen Personen herausgegeben wird). Bei Herausgebern von Zusammenstellungen wäre es aber wahrscheinlich sinnvoller, sie unter RDA 19.3 (Sonstige Person etc., die mit einem Werk in Verbindung steht) einzuordnen. Damit hätte man dann auch zumindest eine Beziehung auf Werkebene (wenn auch nicht zu einem geistigen Schöpfer).

    Viele Grüße
    Heidrun Wiesenmüller

  • #5

    Margarete Payer (Montag, 21 März 2016 11:36)

    Liebe Frau Wiesenmüller,

    danke schön für Ihre ausführliche Beschreibung und das Beispiel Festschrift. Man sieht daraus doch, dass versucht wird mit jeder Menge Umwege dem gewählten theoretischen Ansatz nachzuhecheln. Obwohl ausführlich über Benutzeranforderungen geschrieben wird, fühlt man sich dem Benutzer aber nicht verpflichtet. Oder gibt es einen Benutzer, der auf die Idee kommt, dass z.B. eine Festschrift kein "Werk" sein soll? Er wird wohl hoffentlich nicht merken, dass, wenn er Titel und Herausgeber sucht, er vielleicht auf eine Original-Expression stößt.
    Ihr Vorschlag mit den verschiedenen Arten von Herausgebern bei den Aggregaten ist zwar theoretisch eine gute Lösung, aber ich erinnere mich noch viel zu gut daran, welche Probleme es beim "erweiterten Verfasser" (und das entspricht etwa dem "Zusammensteller", ist aber enger gefasst - galt nicht für Aufsatzsammlungen) früher gab (z.B. Märchen der Gebrüder Grimm). Es gibt auch 2 allerdings ausgefallenere Arten von Festschriften, die kein Aggregating Work sein können: es gibt Autoren, die sich selbst eine Festschrift schreiben, und es gibt Autoren , die allein eine Festschrift für jemanden anderen schreiben. [diese Anmerkung nur um die Sache noch etwas diffiziler zu machen.]
    Wenn ich die etwas gegenüber FRBR geänderte Definition von Work lese, verstehe ich nicht, dass man ein "Aggregierungswerk" braucht. Das zeigen die Beispiele - u.a. "Wallstreet..." schon von Ihnen genannt - und auch das Category Attribute "serial". Könnte es sein, dass man zu sehr eine Verbindung zwischen work und geistigem Schöpfer gesehen hat, weil die meisten Beispiele in FRBR das nahe legen? (Ich habe bisher WEMI auch immer an Verfasserwerken erklärt.)
    Ihr Hinweis auf die Teil-Ganzes-Beziehung bzw. umgekehrt, löst doch das Problem insbesondere bei den aggregate Manifestationen. Und ist für den armen Katalogisierer, der das alles lernen muss, sehr viel verständlicher.
    Schöne Grüße
    Margarete Payer

  • #6

    Margarete Payer (Mittwoch, 23 März 2016 11:48)

    Liebe Frau Wiesenmüller,
    inzwischen habe ich den Aufsatz von Le Boeuf "A basic introduction to FRBRoo and PRESSoo" gelesen.
    Im FRBRoo-Vorschlag gibt es die Klasse (=Entität) Individual Work [is realised in Self-Contained Expression] und Complex Work [has member Work]. Laut Le Boeuf handelt es sich bei letzterem um "a vague cloud of collections". Le Boeuf fragt sich allerdings, ob man diese Werk-Unterscheidungen wirklich braucht.
    Mir scheint, dass das Wallstreet-Problem in FRBR-LRM sich mit der Klasse" Serial Work" der FRBRoo erklären läßt, aber nicht daraufhin gewiesen wird?
    Liebe Grüße
    Margarete Payer